Architektur in Gefahr!
Eine Gruppe engagierter Fachleute hat 2018 die Fachgruppe IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz gegründet, um mit einer Publikations- und Veranstaltungsreihe auf den unsicheren Stand vieler relevanter Bauwerke der Vor- und der Nachkriegsmoderne aufmerksam zu machen. 140 Bauwerke, die nicht oder nur bedingt unter Denkmalschutz stehen, der Meinung der Fachwelt entsprechend jedoch bewahrt werden müssen, stehen nun auf der Liste «Architektur in Gefahr!».
IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz
Denkmalschutz in Zeiten des Wachstums erscheint essentiell als Schutz des Alten vor dem Neuen, das sich mit Druck Bahn bricht und unsere Lebenswelt neu formt. Angesichts dieser Prozesse wächst die Bedeutung des baulichen Erbes. Es lässt uns erleben, was einmal war, Ideen und Wert der jeweiligen Zeit kommen durch es zum Ausdruck. Das ist Baukultur.
Dennoch sind die baukulturellen Zeugnisse der Vor- und Nachkriegsmoderne aktuell stark in Bedrängnis. Nur selten erwecken sie Liebe auf den ersten Blick. Das war auch früher nicht anders. Der Heimatschutz setzt sich heute für den Erhalt und die denkmalverträgliche Sanierung von Bauten der Moderne ein, die er einst vehement verhindern wollte.
Jenseits aller Grabenkämpfe über den richtigen Umgang mit diesen Bauten ist es eine Tatsache, dass sie unsere Lebenswelt nachhaltig geprägt haben. Nicht akzeptabel ist daher, dass in der Schweiz und einigen anderen europäischen Ländern das minimale Schutzalter von Bauten erhöht werden soll, so dass ein grosser Zeitraum der Moderne praktisch seine Schutzstellung per Gesetz verliert. Den zeitlichen Horizont der Unterschutzstellung aber hat der Internationale Rat für Denkmalpflege ICOMOS in seinem 2011 verabschiedeten Dokument von Madrid (1) noch weiter gesteckt, «das Wege zur Bewahrung des architektonischen Erbes des 20. Jahrhunderts» aufzeigt und damit das gesamte 20. Jahrhundert meint.
Architektur des Aufbruchs
«Das vergangene Jahrhundert prägte in vielfacher Hinsicht die Schweiz, so auch in Architektur und Städtebau. Allein in den Städten wurden sechzig Prozent der Bausubstanz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstellt. Das Bürgertum der Nachkriegszeit hatte ein breites Verständnis von Gesellschaft und versuchte diese einzumitten. Das bedeutete vor allem auch, dass möglichst alle daran teilnehmen konnten. Ein offensichtlicher Ausdruck dieser Wohlfahrtsidee sind die Sozialwerke. Doch wie vergewissert sich eine solche egalitäre Gesellschaft mit ihren Bauten? Was ist ihr Bild von sich selbst?
Die Bauten der 1930er- bis 1980er-Jahre sind noch immer genutzte Zeugen aus jener historisch beispiellosen Phase, als die Schweiz zu dem wurde, was sie heute ist. Spitäler, Fabriken, Universitäten, Theater, Schulhäuser, Wohnbauten und – ja! – auch Autobahnen gehören zu unserer Identität, genauso wie die Berge, die pittoresken Altstädte und die idyllischen Dorfkerne. Dieses Erbe steht heute allerdings unter grossem Druck: Gerade diesen «jungen Denkmälern» fehlt oft die breite Akzeptanz. Die Institutionen, die sie repräsentieren, stehen für Demokratie, Bildung, sozialen Ausgleich und Teilhabe. Sie erinnern uns daran, wie neugierig und erwartungsvoll die Gesellschaft damals in die Zukunft blickte» (2).
Nun kommen diese «jungen Denkmäler» in die Jahre. Energetische Anforderungen, innerstädtische Verdichtung und ökonomische Rahmenbedingungen setzen diese Bauten unter einen grossen Veränderungsdruck. Mit dem Instandsetzungsbedarf stellt sich zugleich die Frage nach ihrem Denkmalwert.
«Ende 2012 konnten die Leser der Gratiszeitung 20 Minuten das ihrer Meinung nach «hässlichste» Gebäude der Schweiz einsenden und dann unter allen Eingesandten das Allerhässlichste auswählen. Ein Blick auf die Kandidaten zeigt eine Mehrzahl von Gebäuden aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Die Architektur dieser Zeit scheint den Laien noch immer wenig zu gefallen. Eine wichtige Aufgabe wird es also sein, das Schutzinteresse an Bauten dieser Jahre auch bei den Laien zu verankern – zu denen in der Regel ja auch die zuständigen Politiker zählen» (3).
Unter dem Einwand der Unverhältnismässigkeit von Sanierungen werden kulturell bedeutende und nicht zuletzt bereits inventarisierte öffentliche Bauwerke dieser Zeit oftmals vorschnell dem Abriss freigegeben. Der Denkmalwert eines Bauwerks kann aber nicht von der Kostenzusammenstellung der Immobilienabteilungen oder der Finanzdepartemente bewertet werden. Die Diskussionen zum Denkmalwert eines Bauwerks dürfen sich nicht nur zwischen den Begriffen Ablehnung und Wertschätzung bewegen. Die Definition von Denkmälern ist neben der gesellschaftlich-politischen Frage auch eine wissenschaftliche. Es bedarf eines geschulten Auges, um die Qualitäten und die Bedeutung der Bauten der Moderne zu erkennen.
Moderne in Gefahr
Die Bauten der Boomjahre wurden in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Land oder in Städten wie St. Gallen und Zürich bereits kritisch untersucht und inventarisiert. In anderen Kantonen wird die Denkmalwürdigkeit erst noch geprüft, so auch im Kanton Luzern.
In Luzern ist seit Jahren ein nicht fachmännisches, häufig auf ökonomischen Interessen basierendes Verfahren im Umgang mit den Bauten der Moderne zu beobachten. Bedeutende Werke der Vor- und Nachkriegsmoderne drohen daher zu erodieren. Behörden, Politikern und grossen Teilen der Bevölkerung fehlt des Bewusstsein für diese Bauwerke. Wenn die Bevölkerung einer Gemeinde ein sanierungsbedürftiges öffentliches Gebäude der Moderne als «hässlich» bewertet, hat die Politik leichtes Spiel. Aktuell sind im Kanton Luzern drei herausragende Bauten der Moderne vom Abriss bedroht: das Gewerbegebäude in Luzern (1933) von Carl Mossdorf, das Altersheim Grossfeld in Kriens (1966–1968) von Walter Rüssli, und das Grenzhofschulhaus in Littau/Luzern, das Mitte der 1960er-Jahre von den beiden Luzerner Architekten Friedrich E. Hodel und Hans U. Gübelin erbaut wurde. Gerade das Grenzhofschulhaus versinnbildlicht die mangelnde Sensibilisierung beziehungsweise das fehlende Verständnis für das Thema bei den Laien und der Politik: Im letzten Jahr vom Kanton Luzern unter Denkmalschutz gestellt, stemmt sich der Luzerner Stadtrat gegen den Entscheid und reichte Beschwerde beim zuständigen Regierungsrat Reto Wyss ein.
Angesichts dieser Entwicklungen haben die massgebenden Planerverbände der Zentralschweiz BSA und SIA gemeinsam mit dem Innerschweizer Heimatschutz IHS und der Zentralschweizer Sektion des Schweizerischen Werkbunds SWB im Rahmen des Kulturerbejahres 2018 eine Interessengemeinschaft gegründet, die zur Sensibilisierung im Umgang mit dem baukulturellen Erbe des 20. Jahrhunderts in der Zentralschweiz beitragen soll. Sie setzt sich zum Ziel, die Öffentlichkeit und deren politische Vertretung für die Bedeutung der Bauwerke aus dieser Zeit zu verdeutlichen. Die Qualität, der baukulturelle Wert und die Schönheit hervorragender Bauwerke aus den 1920er- bis Ende der 1970er-Jahre sollen aufgezeigt und sichtbar gemacht werden.
Im Europäischen Kulturerbejahr 2018 hat die IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz deshalb eine eigene Liste erstellt, die jene Bauten der Moderne der 1920er- bis 1970er-Jahre ausweist, die aus ihrer Sicht wert sind erhalten oder geschützt zu werden. Für alle sechs Zentralschweizer Kantone wurden eigene Listen erstellt und eine Auswahl aus 370 Objekten getroffen. Sie wurden, wo möglich, mit den kantonalen Inventaren abgeglichen. In die Liste wurden bewusst auch bereits geschützte oder vorbildlich renovierte Bauten dieser Epoche aufgenommen. Diese Liste wurde in einem Plakat visualisiert und soll für alle am Bauen beteiligte Personen und Institutionen ein Dokument der «unantastbaren» Bauten der Moderne darstellen. Veröffentlicht soll sie auch dazu dienen, von Bauämtern, Bauherrschaften, Investoren und Architekten einen sorgsamen Umgang mit diesen Bauten zu verlangen. Im Rahmen einer Veranstaltung am 20. September 2018 wurde das Projekt öffentlich publik gemacht.
Architektur in Gefahr!
So tituliert das Faltprospekt mit einer Liste von 140 prägenden Bauten der Architektur der Vor- und Nachkriegsmoderne der Zentralschweiz. In einer Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik und der Fachwelt wurden unter der Moderation von Caspar Schärer, Architekt und Generalsekretär des Bund Schweizer Architekten, Fragen zum Stellenwert dieser Architekturepoche gestellt sowie Massnahmen zum Erhalt und zur Integration dieser Bauwerke in unsere Stadt- und Ortsbilder diskutiert. Dabei stand im Vordergrund, wie das Bewusstsein bei öffentlichen und privaten Entscheidungsträgern geschärft werden kann, so dass frühzeitig dem Stellenwert der Objekte gebührende Lösungen diskutiert werden.
Junge Denkmäler – Wie weiter?
Die Diskussionen zeigen auf, dass die historischen Werte der Bauten der Moderne ebenso wenig zu vermitteln, wie ihre ästhetischen Qualitäten auf den ersten Blick erkennbar sind. Daher ist es die Aufgabe von Architekten, Denkmalpflegern und Historikern und der IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz die Erforschung der Bauwerke voranzutreiben und wissenschaftlich fundierte Auswahlkriterien für die Unterschutzstellung festzulegen. Eine Inventarisierung nützt wenig, wenn nicht gleichzeitig Fragen zu Instandsetzungsstrategien für diese Bauten geführt, gestellt und beantwortet werden. Was nützt eine Unterschutzstellung, wenn die Bauanleitungen und die Mittel zu einer angemessenen Sanierung fehlen? Angesichts fehlender Lösungen, werden gerne wenig seriöse und vor allem nicht wissenschaftlich fundierte Diskussionen geführt, etwa über naphtalinverseuchte Schulbauten. Dabei fordert das vom Internationalen Rat für Denkmalpflege ICOMOS 2011 verabschiedete Dokument von Madrid «spezifische Instandsetzungsmethoden zu erforschen und zu entwickeln, die den besonderen Bauweisen angemessen sind». Dies ist nicht nur Aufgabe der Forschungsabteilungen der Architekturfakultäten.
Für die IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz gibt es also noch viel zu tun. Gemeinsam mit weiteren Fachleuten möchte sie der Gesellschaft und der Politik diese besondere Architektur des Aufbruchs vermitteln und bei der anstehenden Inventarisierung Lösungen für den Erhalt und Instandhaltungsmassnahmen anbieten. Nur auf Grundlage einer gezielt auf das jeweilige Bauwerk gerichteten Bauforschung – denn die Kriterien für diese Bauten sind sehr spezifisch ausgelegt, sie reichen von technischen Innovationen oder der seriellen Fertigung bis hin zu klassischen architekturgeschichtlichen Themen – können unsere Volksvertreter in den Parlamenten die richtigen Entscheidungen treffen.
Es lohnt sich, diesen Bauten Sorge zu tragen. Sie sind ein unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft und historisches Zeugnis einer bedeutenden Epoche.
Pinar Gönül (IG Baukultur der Moderne Zentralschweiz)
(1) Das Dokument wurde vom wisenschaftlichen Komitee zum Erbe des 20. Jahrhunderts anlässlich einer internationalen Konferenz im Juni 2011 in Madrid erarbeitet. http://www.icomos-isc20c.org/madrid-document/.
(2) Caspar Schärer, Architekt, Journalist und Generalsekretär BSA Schweiz, Dezember 2018.
(3) Schnell, Dieter. «Vom Feindbild zum Denkmal?», in: werk, bauen + wohnen 10/2013.
Die Liste wird laufend mit neu erfassten Architekturbibliotheksbauten ergänzt.